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SUMO: Nachbetrachtung zu einem Meilenstein

Von Philippe Garner

Helmut hatte immer eine gesunde Abneigung gegen zu simple oder naheliegende Lösungen. SUMO – dieses kühne und in der Geschichte der Fotografie bis dato beispiellose verlegerische Wagnis – musste ihn daher unwiderstehlich anziehen. Die Idee zu dieser Bildersammlung von spektakulärem Format und exzellenter Qualität hatte in einem steten, produktiven Dialog zwischen Fotograf und Verleger Gestalt angenommen. Helmut liebte es, zu experimentieren, neue Wege zu beschreiten, um die so wichtige Schnittstelle zwischen seiner Kunst und seinem Publikum weiterzuentwickeln und zu erweitern. Lange Zeit war die Magazinseite die Basis und Konstante in seiner Karriere gewesen; von Mitte der 1970er Jahre an kamen Buchpublikationen und Ausstellungen hinzu, was ihm die Möglichkeit zur Arbeit mit längeren Bildstrecken und wesentlich größeren Bildformaten eröffnete. In dem schon in seinen Ausmaßen imposanten SUMO, der mit Verpackung 35,4 Kilo auf die Waage brachte, schuf Helmut an der Wende zum 21. Jahrhundert einBuch,das alsmonumentaler Meilenstein alles inden Schatten stellte, was bis dahin technisch und konzeptuell gewagt worden war. SUMO mit seinem maßgeschneiderten Lesetisch definierte einen ganz neuen Standard – ein Buch von der Dimension einer privaten Kunstausstellung. SUMO lässt sich noch in anderer Hinsicht als Triumph von ganz eigener politischer und kultureller Relevanz begreifen, der das Buch auf sehr persönlicher, emotionaler Ebene zu einem lohnenden Unterfangenmachte. Hier konstatiert ein Ausnahmetalent – eher subtil als plakativ, aber darum nicht weniger nachdrücklich – sein Recht und seine Entschlossenheit, den Dialog mit dem Publikum zu seinen Bedingungen zu führen. Kurz gesagt, es ist ein Manifest der Freiheit des künstlerischen Ausdrucks. Helmut zählt zu den bedeutendsten figurativen Künstlern seiner Ära. Als scharfsichtiger Analytiker gesellschaftlicher Entwicklungen hatte er ein ausgeprägtes und vielleicht überraschendes Feingefühl, eine wachsame und hartnäckige Neugier, die in idealer Weise durch seinen trockenen Humor gemildert wurde. Helmuts künstlerische Arbeit war unlösbar mit seiner Biografie verwoben – er hatte die Gabe, jede Erfahrung, die er machte, kreativ zu nutzen, auch die aufwühlenden und prägenden Jugendjahre, in denen die brutalen und traumatisierenden politischen Verhältnisse in Deutschland alles zerstörten, was ihm sicher und beständig erschienen war. Das Leben als Exilant fiel ihm anfangs nicht leicht, aber es gelang ihm, seinen Status als nun Heimatloser schöpferisch zu nutzen. Helmut entwickelte ein fein justiertes Empfinden für die Atmosphäre eines Ortes und die Dinge, die er beobachtete – vor allem für die subtilen Zeichen sozialer Codes und Rituale, für die Zeichensprache der Verführung und der Mode. Er ließ sich von seinem nostalgischen Faible für die sinnträchtigen Symbole des alten Europa inspirieren, das Europa seiner Kindheit, aber er öffnete sich auch fasziniert den vulgären neuen Babylons der USA, vor allem Los Angeles. Er nutzte seinen einzigartigen Scharfsinn und seine eigentümliche Wahrnehmungsgabe, um ein OEuvre zu schaffen, das für seine Ära ein ähnlich bedeutendes Zeitdokument ist, wie etwa William Hogarths Karikaturen für das England des 18. Jahrhunderts, die Bilder Honoré Daumiers für die gesellschaftlichen Nuancen im Frankreich zur Mitte des 19. Jahrhunderts oder George Grosz’ grimmige Kommentare zu genau jenem dekadenten Berlin, in das Helmut hineingeboren worden war. Endgültig zu seiner unverwechselbaren Handschrift fand Helmut, als er sich in Paris niederließ. Hier fand er für sich eine kreative Rolle im Jetset und der schicken gehobenen Boheme, einem eng verwobenen Milieu aus Leuten, die alle in der Mode, den Medien oder der Kunstszene tätig waren, ein Milieu, das ihm unerlässliche Stimulanz für seine Arbeit wurde. In seinem Studio in der Rue Aubriot lagerte er seine Aufnahmen in den 1970ern nach „Fashion“, „Erotic subjects“und„Portraits mondains“getrennt in verschiedenen Karteischränken, aber natürlich war es seine ausgeprägte Gabe, genau dieses „Schubladendenken“ mutwillig zu überschreiten und so ein vielschichtiges Porträt der Gesellschaft zu zeichnen, in dem subtile Andeutungen und vielsagende Subtexte jedem Bild eine faszinierende Aura gaben. Helmut reiste viel, doch bei sich trug er stets die kostbaren und prägnanten Erinnerungen an seine alte Heimat Deutschland; Gefühle, die ihn immer häufiger in dieses Land und diese Kultur zurückkehren ließen, die ihn so nachhaltig geprägt hatten. Es liegt eine zwingende Logik darin, dass Helmut Newtons vier Bände der Illustrated, die er zwischen 1985 und 1995 produzierte, die Illustrierten zum Vorbild haben, die ihn in den 1930ern so inspiriert hatten. Deutschland kann auf eine lange und stolze verlegerische Tradition seit den Tagen Gutenbergs zurückblicken, doch Helmut hatte selbst miterleben müssen, wie diese unter den Nazis und den Bücherverbrennung ein tragisches Ende fand. Dabei fällt mir wieder ein, wie besonnen er reagierte, als er vor einigen Jahren darüber informiert wurde, eine Gruppe Studenten plane einen Vortrag, den er an ihrer Universität halten sollte, zu sabotieren, indem sie den Redner, dessen Werk sie nur durch die Brille ihrer Vorurteile sehen konnten, mit rohem Fleisch bewarfen. Mit bedachten Worten machte Helmut gleich zu Anfang klar, dass er, der nur mit Glück den brutalen Säuberungsaktionen der späten 1930er entgangen war, sich doch wohl das Recht auf künstlerische Freiheit erworben habe – das Recht, als Fotograf Grenzen auszutesten und zu provozieren. Der Unmut der Studenten legte sich, und am Ende seines Vortrags applaudierte das Auditorium geschlossen einem Künstler, der stets mit Wagemut und Ausdauer seinen kreativen Instinkten treu geblieben ist und durch seine geistreichen und kontroversen Bilder jeder Art von Mittelmaß, Untertänigkeit und Oberflächlichkeit unerschrocken den Kampf ansagte.


SUMO, passenderweise in Deutschland publiziert, ist längst ein Stück Fotobuchgeschichte. Das Format und die daraus resultierende Kostspieligkeit engten die Verbreitung jedoch zwangsläufig ein. Mit dieser neuen Edition wird ein Wunsch umgesetzt, den Helmut vor einigen Jahren äußerte. Er wäre sicherlich hocherfreut darüber, dass SUMO ein Jahrzehnt nach der Erstveröffentlichung – nun in einem Format, dass einen demokratischeren Zugang erlaubt – das größtmögliche Publikum erreicht.

Bilder:
1/2: Paris, Dezember 1998: Philippe Starck in seinem Studio bei der Arbeit am Entwurf seines SUMO-Tischs aus Edelstahl.

3: Mailand, Mai 1999: Riesige Stapel von SUMO-Druckbögen türmen sich bei Legatoria LEM, einer italienischen Buchbinderei, die sich auf überformatige Bücher spezialisiert hat, unter anderem auch seltene Bibelausgaben für den Vatikan. Über 350 Tonnen von 250g/ qm BVS-plus Papier, eigens für SUMO in der Papierfabrik Scheufelen hergestellt, wurden in der Druckerei Editoriale Bortolazzi in Verona während der dreimonatigen Produktionszeit verarbeitet.